Das Jugendpolitische Programm ist in Sachsen-Anhalt ein jugendpolitischer Meilenstein. Wie sah der Entwicklungsprozess aus und warum ist es Ihnen ein wichtiges Anliegen, auf diese Art verbindlich im Interesse Jugendlicher zu handeln?
Vor fast 5 Jahren haben wir in unserer Koalitionsvereinbarung festgehalten, dass wir ein jugendpolitisches Programm wollen. Dem vorausgegangen war, dass insbesondere der Kinder- und Jugendring Sachsen-Anhalt und die Jugendverbände gesagt haben: Ihr versprecht, Jugendpolitik im Land zu machen, aber es gibt keine richtige Strategie mit Verbindlichkeiten und klaren Zielen. Deswegen haben wir zusammen mit dem Kinder- und Jugendring und jungen Menschen einen Prozess begonnen und gefragt, was ihnen wichtig ist. Diese Ergebnisse sind in ein verbindliches Strategiepapier geflossen und das jugendpolitische Programm ist entstanden.
Um die Umsetzung der Ziele zu garantieren, wurde eine interministerielle Arbeitsgruppe eingerichtet und das Projekt „Jugend Macht Zukunft“ beim Kinder- und Jugendring Sachsen-Anhalt hat dazu eine Qualifizierungsreihe angeboten. Was sind aus Ihrer Sicht Gelingensbedingungen dafür, dass nun überall durch die jugendpolitische Brille geschaut wird?
Wir haben sehr interessante Erfahrungen gemacht. Natürlich ist das Jugendministerium im besonderen Maße für Jugendpolitik zuständig. Über „Jugend Macht Zukunft“ haben wir festgestellt, dass sich die anderen Ministerien mit anderen Aspekten von Jugendpolitik beschäftigen. Beispielsweise mit den Fragen: Wie kann man Kinder- und Jugendarbeit im ländlichen Raum realisieren? Wie gestaltet man den öffentlichen Nahverkehr jugendgerecht? Wie können junge Menschen tatsächlich gehört und einbezogen werden, wenn es um Entwicklungen in der Stadt oder der Gemeinde geht? In diesem Zusammenhang haben viele Kolleg*innen aus anderen Ministerien wie dem Verkehrsministerium und dem Innenministerium festgestellt, dass Jugendpolitik eine Querschnittsaufgabe ist. Es war schön zu sehen, dass wir Projekte entwickeln konnten, in denen junge Menschen auf Augenhöhe mit anderen Minister*innen debattiert haben, was in ihren Ressorts jugendpolitisch passieren muss.
Das Jugendpolitische Programm wurde gemeinsam mit Jugendlichen entwickelt, warum war das aus Ihrer Sicht geboten?
Junge Menschen begreifen ganz schnell, wenn ihre Wünsche nur zur Kenntnis genommen, aber nicht umgesetzt werden. Unser großer Vorteil war, dass die jungen Menschen sich ernstgenommen und mitgenommen fühlten. Wir haben es geschafft, die einzelnen Fäden zusammen zu fassen und daraus das Programm zu gestalten. Das war Beteiligung vom Feinsten.
Im Programm wurden wichtige Handlungsbedarfe formuliert. Welche Schritte zur Umsetzung und Weiterentwicklung der formulierten Ziele sind Ihnen besonders wichtig?
Ich hoffe sehr, dass das jugendpolitische Programm sich weiterentwickelt, denn es muss sich immer wieder an die aktuellen Zeiten anpassen. Ich würde es begrüßen, wenn wir aus unserem Programm eine Strategie entwickeln und uns dabei auf feste Punkte konzentrieren. Wir müssen noch einige Bereiche weiter fokussieren und dabei einen nachhaltigen Ansatz verfolgen.
Die Strategie schafft die Rahmung für Aktivitäten im ganzen Land. Wie wird die kommunale Ebene aktiviert, sich für Jugendbelange einzusetzen?
Wir sind schon ziemlich weit hinsichtlich vieler Städte und zum Teil auch kleineren Kommunen, die jetzt Jugendbeiräte gebildet haben oder die junge Menschen als sachkundige Einwohner*innen einsetzen und in den Ausschüssen beteiligen. Dass junge Menschen tatsächlich in die Kommunalpolitik mit integriert sind, das ist ein sehr großer Fortschritt und den gilt es noch weiter auszubauen.
2019 wurde der Jugendbeauftragte ernannt, was verbinden Sie mit dieser Funktion und welche Erwartungen haben Sie daran?
Der Kinder- und Jugendbeauftragte ist zwar im Jugendministerium angesiedelt, hat aber die Möglichkeit, über seine Unabhängigkeit viel mehr Themen anzusprechen, welche über das Ministeriumsgefüge hinausgehen. Er kann sich mit anderen Ministerien und Verbänden austauschen und hat dadurch die Möglichkeit, stärker auf die Interessen von jungen Menschen einzugehen.
Was sind die nächsten Meilensteine für die Jugendpolitik in Sachsen-Anhalt?
Ein ganz großes Thema ist nach wie vor die Stärkung der Kinder- und Jugendarbeit im ländlichen Raum. Wie kann man es schaffen, dass sich junge Menschen nicht abgehängt fühlen? Aber auch wie die Digitalisierung im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe mehr genutzt werden kann? Das sind alles drängende Fragen. Wir wollen jungen Menschen hier in Sachsen-Anhalt eine Perspektive geben und zeigen, dass es sich lohnt und Freude macht, hier auch nach der Ausbildung oder Schule zu bleiben und seine Zukunft zu sehen.
Hatten Sie ein persönliches Aha-Erlebnis im Gespräch mit den Jugendlichen?
Ich kann mich gut an eine große Auftaktveranstaltung in Stendal zum Landeszentrum „Jugend und Kommune“ erinnern. Da hatte ich das erste Mal ein Aha-Erlebnis, als Bürgermeister*innen mit den Jugendlichen aus ihrer Region auf Augenhöhe diskutiert haben. Es geht darum, dass junge Menschen mitreden können und nicht nur eine Alibifunktion im Ort haben. Wir haben ihre Wünsche und Bitten ernst genommen und tatsächlich in der Kommunalpolitik umgesetzt.
Welches sind die wichtigsten Themen für junge Menschen?
Der öffentliche Nahverkehr ist eines der wichtigsten Themen. Wie komme ich als junger Mensch von A nach B? Daraus hat sich in unserem Land das Azubi-Ticket entwickelt, welches natürlich nicht nur für die Fahrt zum Ausbildungsort genutzt werden kann. Als Nächstes soll jetzt ein Schüler*innenticket geschaffen werden. Das ist dann wirklich greifbare Politik, die auch Unternehmen wie die Bahn und andere Verkehrsgesellschaften beeinflussen. Denn diese machen sich dann Gedanken darüber, wie Angebote geschaffen werden können, die nicht an den Bedürfnissen der jungen Menschen vorbeigehen.
Eigenständige Jugendpolitik wird seit über zehn Jahren diskutiert, umgesetzt und weiterentwickelt. Wie schätzen Sie die Entwicklungen in anderen Bundesländern und auf Bundesebene ein, ist die Jugendpolitik „auf Kurs“?
Ich würde mich gerne mit anderen Bundesländern darüber unterhalten und diskutieren, wie man Kinder- und Jugendpolitik noch weiter entwickeln kann. Dazu wünsche ich mir noch mehr Partner*innen, die einen ähnlichen Weg gehen wie wir. Ansonsten muss ich sagen, dass der Bund bereits 2018 in eine Vorreiterrolle gegangen ist und uns ermöglicht hat, so viele Projekte für junge Menschen zu entwickeln. Uns im Land ist es gelungen, das mit unserem jugendpolitischen Programm zu bündeln, und das würde ich gerne weiter ausbauen.
Welche Themen sind in der Corona-Pandemie noch wichtiger geworden?
Die Corona-Krise hat die Armut von Kindern und Jugendlichen sichtbarer gemacht und uns gezeigt, dass wir mehr im Bereich der Armutsprävention unternehmen müssen. Auch gerade im Hinblick auf die Digitalisierung dürfen wir diese jungen Menschen nicht vergessen und es muss dort mehr Unterstützungsmöglichkeiten geben, bevor wir sie verlieren. Uns hat Corona gezeigt, dass wir zwar im Bereich der Digitalisierung einen unglaublichen Sprung gemacht haben und aufgrund der Kontaktbeschränkungen viele Online-Angebote initiiert haben. Trotzdem müssen in der Kinder- und Jugendarbeit noch mehr digitale Elemente hinzukommen. Dazu bedarf es einer Aufstockung der Hardware und von Internetanschlüssen. Zudem hat sich gerade in der Corona-Zeit das Freizeitverhalten der jungen Menschen stark ins Netz verlagert. Um junge Menschen vor auftretendem Suchtverhalten zu schützen, ist es wichtig, dass wir in dem Bereich noch mehr Angebote schaffen. Ein anderer wichtiger Aspekt sind Fakenews und Medienkompetenz. Ich mache mir Sorgen darüber, dass Kinder und Jugendliche negative Erfahrungen im Internet machen, also dort z.B. Gewalt ausgesetzt sind. Auch in diesem Bereich muss Jugendpolitik reagieren und Angebote schaffen.
Interessante gesellschaftliche Impulse gehen oft von jungen Menschen aus, wie beispielsweise die Bewegung Fridays for Future. Wie kann eine Übersetzung zwischen ihren Forderungen und Jugendpolitik stattfinden?
Wir wollten mit den Initiator*innen von Fridays for Future zusammen entwickeln, wie wir den Themen Klima und Nachhaltigkeit eine Plattform geben können. Dazu haben wir jetzt eine Arbeitsgruppe gebildet. Da die Nachhaltigkeitsstrategie im Umweltministerium verankert wird, ist das ein gutes Beispiel für die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Ministerien.
Wenn wir uns jetzt Sachsen-Anhalt in 10 Jahren vorstellen. Welche Rollen würden dann Jugendliche spielen und wie könnten ihre Bedürfnisse noch besser wahrgenommen werden?
Wir müssen den Strukturwandel in Sachsen-Anhalt so schaffen, dass der ländliche Raum als lebenswerter Raum erhalten bleibt, dazu gehört auch die Digitalisierung. Und dazu brauchen wir die jungen Menschen und ihre Ideen. Das ist ihre Zukunft.
Zur Person
Petra Grimm-Benne ist seit 2016 stellvertretende Ministerpräsidentin und Ministerin für Arbeit, Soziales und Integration des Landes Sachsen-Anhalt.
Das Interview wurde am 26.01.2021 in Magdeburg geführt. Es ist im Rahmen eines Filmprojekts von jugendgerecht.de entstanden, bei dem aktuelle jugendpolitische Entwicklungen in Deutschland portraitiert werden.