Interview
Home > Eigenständige JugendpolitikJugendpolitik mit ALLEN jungen Menschen

(01.03.2022) Birgit Beierling beschreibt aus Sicht der Jugendsozialarbeit, wie die Lebenssituation aller Jugendlichen von der Politik im Blick behalten werden kann und betont die Notwendigkeit einer strategischen Jugendpolitik für alle jungen Menschen.

Drei Mädchen laufen einander eingehakt und lachen dabei. Drei Mädchen laufen einander eingehakt und lachen dabei.
Foto: P. du Preez via unsplash.com

Sie waren in der 19. Legislaturperiode im Beirat der Jugendstrategie der Bundesregierung. Wie kann Politik die Lebenssituation aller Jugendlichen im Blick behalten?

Die Politik ist gut beraten, Jugendliche bei sie betreffenden politischen Beurteilungen und Entscheidungen einzubeziehen. Dabei geht es nicht um einen schlichten Anhörungsprozess, sondern um ein Ringen um gute Lösungen mit den jungen Menschen, so dass die Entscheidungen auch von den Betroffenen als hilfreich und sinnvoll eingeschätzt werden. Beispielsweise könnten bei der Einführung einer Förderung während einer Berufsausbildung Jugendliche in Ausbildung nach ihren Bedarfen gefragt werden oder bei der gesetzlichen Begrenzung von gigantischen Mietpreisentwicklungen auch junge Erwachsene zu Wort kommen, die ihre erste Wohnung finanzieren müssen. Oder es könnten die betroffenen jungen Erwachsenen gefragt werden, wie sie in ihrer Lebenssituation einen Schul- oder Berufsabschluss nachholen wollen und können.

Damit Politik die Lebenssituation aller Jugendlichen in den Blick nehmen und evidenzbasiert handeln kann, ist ein Auseinandersetzen mit unterschiedlichen Biographien und besonderen Lebenskonstellationen unerlässlich. So kann die Lebenssituation der jungen Menschen in Deutschland auch indirekt Berücksichtigung finden, wie es im zivilgesellschaftlichen Beirat des BMFSFJ zur Umsetzung der Jugendstrategie der Bundesregierung in der 19. Legislaturperiode geschehen ist. Diesem Gremium gehörten eine Reihe von Bundesorganisationen an, die die Jugend in Deutschland in ihren unterschiedlichen Facetten und Kontexten vertreten, angefangen vom Deutschen Bundesjugendring über die Deutsche Sportjugend, die Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung, den neuen deutschen Organisationen, der JUGEND für Europa, der AGJ und dem IJAB war auch der Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit Mitglied im Beirat. Damit gelang es, viele Lebenslagen der jungen Menschen im Beirat zu repräsentieren und mitzudenken. Eine solche Debatte unter Fachleuten ersetzt jedoch keine Beteiligung von jungen Menschen.

Wie kann es gelingen, allen Jugendlichen eine Mitwirkung an Beteiligungsprozessen auf Bundesebene zu ermöglichen?

Will man jungen Menschen eine Mitwirkung auf Bundesebene ermöglichen, so müssen zeitnahe Entscheidungen geplant und transparente Wege gegangen werden. Jugendliche müssen unmittelbar erfahren und verstehen, welche Interessen Berücksichtigung gefunden haben und aus welchen Gründen das jeweilige politische Ergebnis erzielt wurde.

Die JugendPolitikTage und die Bundesjugendkonferenzen sind neue Formate auf Bundesebene, Jugendliche in größerem Maße einzubeziehen. Die Beteiligungsprozesse auf Bundesebene stellen dabei eine große Herausforderung dar, da die Auswirkungen der Bundespolitik auf die Jugendlichen nur durch eine hohe Abstraktionsfähigkeit herleitbar ist. Deshalb haben sich diese Formate auch als sehr hochschwellig herausgestellt, so dass eine Beteiligung der Jugendlichen in prekären Lebenslagen, die z. B. in Angeboten der Jugendsozialarbeit gefördert werden, ohne professionelle Unterstützung wenig gelingen kann.

Um die Beteiligung derjenigen Jugendlichen zu ermöglichen, die in formalen Beteiligungsprozessen oft keine ausreichende Beachtung finden, aber die unsere gesellschaftliche Unterstützung in besonderem Maße benötigen, können die Verbände und Träger der Kinder- und Jugendhilfe eine Brückenfunktion übernehmen, indem sie zum einen diesen Jugendlichen eine starke Stimme verleihen und zum anderen diese jungen Menschen zur Interessensvertretung motivieren und sie auf dem Weg der Beteiligung begleiten.

Was kann die Jugendsozialarbeit konkret beitragen, um wirksame Jugendpartizipation zu unterstützen?

Erste Erfahrungen konnten wir damit erlangen, dass Einrichtungen der Jugendsozialarbeit zusammen mit den Jugendlichen und im Rahmen von Projektarbeit Wünsche und Forderungen der jungen Menschen an die Politik gesammelt haben. Diese wurden in Form von Filmen, Plakaten oder Flipcharts übermittelt. Die „Produkte“ sind dann in die Präsentation der JugendPolitikTage eingeflossen. In der Auswertung wurde deutlich, dass der Mehrwert einer solchen Beteiligung für diese jungen Menschen dann entstand, wenn die Wünsche und Forderungen auch regional politischen Vertreter*innen nahegebracht werden konnten. Die Resonanz vor Ort ist direkter spürbar. Es wird nun darum gehen, auch andere Formate auf Bundesebene zu erproben, mehr Erfahrungen in der begleiteten Beteiligung zu sammeln, damit junge Menschen in prekären Lebenslagen auch auf Bundesebene ihre Stimme erheben können.

Die Angebote der Jugendsozialarbeit können neben der Unterstützung und Begleitung von jungen Menschen in direkten Beteiligungsformaten grundsätzlich einen Erfahrungsraum für Prozesse der Selbstpositionierung und Selbstwirksamkeit bieten. Beispielsweise kann das Angebot der Berufsorientierung und -vorbereitung oder der beruflichen Qualifizierung genutzt werden, um die Mitgestaltung von verhandelbaren Rahmenbedingungen und Förderzielen zu erleben, aber auch um eigene Standpunkte zu entwickeln und entsprechend zur Demokratiebildung beitragen. Dasselbe gilt auch für Beratungs-, Begleitungs- und Coaching-Angebote. Die gelebte Mitbestimmung bei Trägern, die praktizierte Mitgestaltung von individuellen Förderungen und das Ernstnehmen der Wünsche und Interessen der jungen Menschen leisten hier einen erheblichen Beitrag. Leider sind die Rahmenbedingungen der Jugendberufshilfe mit ihrer Schnittstelle zur Arbeitsförderung nicht immer so stark ausgestaltbar, dass eine Jugendpartizipation wirksam umgesetzt werden kann.

Aber – und das gilt auch für die Jugendhilfekontexte – die wirksame Umsetzung der Jugendpartizipation hängt maßgeblich von der Bereitschaft der pädagogischen Fachkräfte ab, wie stark sie dem jungen Menschen tatsächlich ein Gegenüber sein und ihm ein ernst gemeintes Beziehungsangebot unterbreiten können.

Welche Erwartungen haben Sie mit Blick auf ihr Arbeitsfeld an die Jugendpolitik der neuen Bundesregierung?

Der Übergang von der Schule in den Beruf sollte dringend und stets mit wirksamen Partizipationsmöglichkeiten umgesetzt werden. Jugendliche brauchen ein Recht auf Mitgestaltung ihrer Berufs(wahl)wege, sowohl was die individuelle Beratung und Förderung z. B. in Jugendberufsagenturen/bei den Partnern der Jugendberufsagenturen angeht, als auch, was strukturelle Mitbestimmungsmöglichkeiten wie Jugendräte, Jugendforen oder Jugendkonferenzen betrifft. Dabei muss ein besonderer Fokus auf den Einbezug der jungen Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf gelegt werden. Die Träger der Jugendsozialarbeit können hier eine gute Brückenfunktion übernehmen und den jungen Menschen aus prekären Lebenslagen eine starke Stimme geben. Die Pandemie hat gezeigt, wie stark Jugendliche unter den verordneten Kontaktbeschränkungen gelitten haben und wie wenig sie bei der Vorbereitung von Entscheidungen beteiligt wurden. Daraus sollten wir lernen und die Beteiligung von jungen Menschen in allen sie betreffenden Lebenslagen umsetzen.

Ein notwendiger Schritt einer wirksamen Jugendpolitik ist aus Sicht der Jugendsozialarbeit aber auch, eine tatsächliche Ausbildungsgarantie auszusprechen und umzusetzen, die Jugendlichen eine ihren Interessen und Fähigkeiten entsprechende Ausbildung garantiert. Eine solche Ausbildungsgarantie muss sowohl die betrieblichen als auch die vollzeitschulischen Berufsausbildungen berücksichtigen und darf nicht an unterschiedlichen föderalen Zuständigkeiten scheitern. Das wird nicht ohne zusätzlich finanzierte Ausbildungs-/Schulplätze gehen. Damit auch die jungen Menschen den Zugang zu einer Berufsausbildung finden und eine Ausbildung erfolgreich aufnehmen und abschließen können, die in diesen (Nach-)Pandemiezeiten Unterstützung auf all diesen Wegen brauchen, wird für einen langen Zeitraum (mindestens 5 Jahre) eine Stärkung der Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe vor Ort erfolgen müssen. Das werden Länder und Kommunen nicht ohne die finanzielle Unterstützung durch die Bundesebene schaffen.

Die Jugendpolitik der neuen Bundesregierung wird dann stark werden, wenn es ihr gelingt, die Sichtweise von Jugendlichen in unterschiedlichen Lebenssituationen zu ermitteln, die Einschätzungen der Jugendlichen bei Entscheidungen ressortübergreifend zu berücksichtigen und für die eingeschlagenen politischen Wege gegenüber den jungen Menschen Rechenschaft abzulegen.

 

Birgit Beierling.

Zur Person

Birgit Beierling ist Diplom Sozialwissenschaftlerin und seit 2012 Referentin für Jugendsozialarbeit im Paritätischen Gesamtverband, der über 10.000 Mitgliedsorganisationen vereint, in denen sich mehr als 750.000 Beschäftigte für benachteiligte Menschen einsetzen. Birgit Beierling arbeitet seit 10 Jahren im Fachausschuss V „Jugend, Bildung, Jugendpolitik“ der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe - AGJ aktiv mit. Von 2018 bis 2019 war sie Sprecherin des Kooperationsverbundes Jugendsozialarbeit, des Zusammenschlusses der sieben Bundesorganisationen der Jugendsozialarbeit und von Februar 2019 bis September 2021 Mitglied des Beirats des BMFSFJ zur Jugendstrategie der Bundesregierung.