Jugendgerechte Digitalpolitik:
Warum der digitale Wandel die jugendpolitische Agenda berührt
Ein Gastbeitrag von Ingo Dachwitz, Juni 2024
Repräsentationsdefizit und Beteiligungsmissstand
Cybermobbing, Grooming, Gaming-Sucht – wenn es in gesellschaftlichen Debatten um „die Jugend“ und „das Internet“ geht, sind diese Schlagworte schnell bei der Hand. Wenn nicht gerade auf die vermeintlich angeborene Kompetenz der „Digital Natives“ im Umgang mit dem Digitalen verwiesen wird, geht es meist um Gefährdungslagen und Bildungsbedarfe. Dabei wäre es an der Zeit, die junge Generation ernst zu nehmen und bei der Aushandlung von Regeln für die digitale Gesellschaft einzubeziehen.
Als Impulsgeber und Mitgestalter kommen Heranwachsende auch in anderen Politikbereichen kaum zum Zug. In der Digitalpolitik fällt dieser Missstand allerdings besonders auf. Einerseits weil die Organisationen und Akteure, die sich sonst für die Einbeziehung junger Menschen in die Politik einsetzen, das Politikfeld immer noch zu wenig auf dem Schirm haben. Andererseits weil das Repräsentationsdefizit junger Menschen bei der politischen Gestaltung des Netzes besonders drastisch ausfällt.
Ohne in den Dualismus von „Digital Natives“ und „Digital Immigrants“ verfallen zu wollen: Auch 2024 wird Digitalpolitik zu häufig von jenen bestimmt, für die das Netz ein abstrakter Begriff ist und welche die Konsequenzen ihrer Politik nicht direkt erfahren. Ganz im Gegensatz zur jungen Generation, die als demographisch schrumpfende und politisch marginalisierte Gruppe kaum über Einflussmöglichkeiten verfügt.
„Media Life“ – Dauervernetzt in der Welt
Die Mediatisierung der Lebenswelt von Jugendlichen ist so weit vorangeschritten, wie die keiner anderen Bevölkerungsgruppe: Ihr Alltag ist von digitaler Informations- und Kommunikationstechnologie umfassend durchdrungen. Knapp viereinhalb Stunden verbrachten 14-29-Jährige im Jahr 2023 mit Online-Medienkonsum, 257 Minuten pro Tag. Bei der Gruppe der 50-59-Jährigen lag die Zahl gerade mal bei 89 Minuten, die 30-49-Jährigen liegen mit durchschnittlich 180 Minuten dazwischen.
Junge Menschen sind eigentlich immer online, der niederländische Medienwissenschaftler Mark Deuze nennt diesen Modus des dauervernetzt-in-der-Welt-Seins „Media Life“. Medien sind ihm zufolge keine externen Apparate mehr, mit denen in klaren Grenzen punktuell interagiert wird, sondern konstituieren zusehends unsere Lebenszusammenhänge.
Für alle, die sich in Jugendhilfe, -arbeit und -politik für das Wohl und die Interessen junger Menschen einsetzen, heißt das: Der Digitale Wandel erfordert nicht nur Veränderungen in der pädagogischen Praxis und Organisation, sondern muss auch die politische Agenda berühren.
Visionen und Konzepte für das Bildungswesen
Selbst ein klassisch jugendpolitisches Feld wie Bildung wird unter dem Gesichtspunkt des Digitalen Wandels von Jugendlobbyisten bislang kaum beackert. Beschwerden über digitalskeptische Lehrkräfte und die mangelhafte technische Ausstattung von Schulen sind schnell ausgesprochen. Aber es braucht auch Visionen und Konzepte für ein Bildungswesen, das durch die Integration digitaler Medien nicht nur lebensnah ist, sondern auch die zentralen Kompetenzen für ein selbstbestimmtes Leben in der Digitalen Gesellschaft schärft: Organisation und Reflexion von Information, Kommunikation und Wissen.
Der aktuelle KI-Boom, genauer gesagt der Aufstieg der vermeintlich intelligenten Text- und Bildgeneratoren, verschärft diese Notwendigkeit noch. Wie überprüft man Aussagen über politische Verhältnisse, die ein Programm wie Chat-GPT im Brustton der Überzeugung vorträgt? Wie hält man künstliche Bilder und echte Aufnahmen aus einem Kriegsgebiet auseinander? Und wofür muss man seitenweise Wissen auswendig lernen, wenn es im Alltag nur einen Klick entfernt ist? Unser Bildungssystem gibt auf diese Fragen immer noch keine Antworten.
Teilhabe an sozialen Prozessen
Auch die Themen Zugangsgerechtigkeit und digitale Grundversorgung gewinnen an Bedeutung, wenn man sich vor Augen hält, wie wichtig das Netz für die Identitäts- und Gruppenkonstruktion junger Menschen heute ist. Wer zuhause keinen Internetanschluss hat oder zur Mitte des Monats aufgrund des vertraglich beschränkten Datenvolumens nicht mehr von unterwegs kommunizieren kann, ist von der Teilhabe an relevanten sozialen Prozessen ausgeschlossen.
Das digitale Sozialleben findet heute zudem fast ausschließlich auf durchkommerzialisierten Plattformen statt, die sich in der Hand weniger Konzerne befinden und soziale Normen prägen. Die Facebook-Papers der Whistleblowerin Frances Haugen belegten 2021, dass selbst der Meta-Konzern aus eigenen Untersuchungen weiß: Während insbesondere Instagram mit seiner Vergleichslogik Gift für die Psyche junger Menschen ist, wirken die Algorithmen der Plattformen toxisch für das gesellschaftliche Klima: Das Geschäftsmodell der Online-Werbung führt schließlich dazu, dass die Konzerne ihre Nutzer*innen mit süchtig-machendem Design möglichst lange auf der Plattform halten wollen und zugleich solchen Inhalten mehr Reichweite geben, die besonders polarisierend sind. Gemeinnützige Gegenentwürfe wie Mastodon und das Fediversum müssten deshalb politisch gefördert und jungen Menschen nähergebracht werden.
Datenspuren beeinflussen Lebenschancen
Durch die Angewiesenheit auf die Infrastruktur digitaler Plattformen sind Heranwachsende zudem in besonderem Maße von staatlicher wie kommerzieller Überwachung betroffen. Für die Verwendung von Diensten wie TikTok, Instagram, YouTube oder Twitch zahlen die wenigsten Nutzer*innen Geld, dafür werden große Teile ihres Lebens in Datenform festgehalten. Persönliche Informationen sind zur handelbaren Ware geworden, deren Auswertung zukünftige Lebenschancen beeinflusst – von Programmen, die über die Kreditwürdigkeit entscheiden bis zu solchen, die automatisiert (aus-) sortieren, wessen Bewerbung auf einen Job relevant ist.
Das ist umso folgenschwerer, da gerade die Lebensphase der Jugend durch Brüche, Experimente und das Austesten von Grenzen geprägt ist. Noch mehr als bei Erwachsenen hängt die freie Entfaltung der Persönlichkeit bei ihnen davon ab, dass nicht jede Handlung in ihren Konsequenzen durchdacht werden kann und muss.
Urheberrecht kriminalisiert Alltagskreativität
Nirgends ist der mangelnde Einbezug der Lebenswirklichkeit junger Menschen so sichtbar wie bei der Frage nach der Kompatibilität von Digitalkultur und Urheberrecht. Kopieren, Remixen und Teilen sind in den Öffentlichkeiten des Netzes gängige Kulturtechniken. Man muss kein Anhänger des Konzepts „Kulturflatrate“ sein, um anzuerkennen, dass das derzeitige Urheberrecht mit seiner Idee vom „geistigen Eigentum“ vielen Formen dieser kommunikativen Alltagskreativität entgegensteht.
Doch wie sollen politisch Entscheidende, in deren Alltag Remixe, Memes und Linkkultur keine Rolle spielen, auch ermessen können, welche Konsequenzen ihre Politik hat? Hier prägen Menschen, für die das Internet und digitale Medien keine große Rolle spielen, die Lebenswelt derer, die sich im Internet zuhause fühlen. Dabei geht es weniger um Expertentum als um eine Verzahnung von Betroffenheit und Repräsentation.
Wie groß die Kluft bei diesem Thema ist, zeigte sich bei den großen Demonstrationen gegen die Urheberrechtsreform der EU 2019. Motiviert durch YouTuber*innen schickten zehntausende junger Menschen besorgte Mails an EU-Abgeordnete und äußerten in Sozialen Medien Sorgen über die in der Reform vorgesehenen Uploadfilter. Dem Chef-Verhandler des EU-Parlaments, Axel Voss (CDU) fiel nichts Besseres ein, als den Protest auf von Google gesteuerte Bots zu schieben. Wenig später gingen zehntausende junger Menschen auf die Straßen und riefen „Wir sind keine Bots“. Die Reform kam trotzdem und die Befürchtungen haben sich in Teilen bewahrheitet: Immer wieder kommt es zu fehlerhaften Sperrungen von Videos, weil die Filter der Plattformen sie für Urheberrechtsverstöße halten.
Demokratische Potenziale des Netzes nutzen
In Zeiten des fortschreitenden Legitimationsverlusts des etablierten politischen Betriebs kommt diesem letzten Punkt eine besondere Bedeutung zu. Bislang ist es keiner Partei gelungen, das partizipative Potenzial des Netzes für die Herstellung von Politik zu nutzen. Während gerade für Jugendliche die wahrgenommene Nähe zu Stars und Idolen durch Dienste wie YouTube, Instagram und TikTok wächst, kommen die Institutionen und Akteure der Politik in diesen Lebenswelten kaum vor.
Und selbst wenn: In medialen Kontexten, in denen persönliche Präsenz und inszenierte Authentizität alles sind, macht die häufig immer noch rein formelle Präsenz den jungen Menschen nur noch deutlicher, wie weit weg die Politik ist. Das Gefühl, von der Politik wahr- und ernstgenommen zu werden, ist jedoch eine zentrale Voraussetzung für das Vertrauen in Demokratie. Das zeigt nicht zuletzt der jüngste Erfolg der rechtsextremen AfD auf TikTok.
Es wäre deshalb höchste Zeit, Jugend- und Digitalpolitik zusammenzudenken. Viele Jugendverbände haben erste Schritte in diese Richtung unternommen, doch noch immer ist das Thema nicht in der Breite etabliert. Vor allem müssen sie Politiker*innen immer wieder daran erinnern, wie stark Digitalpolitik Kinder und Jugendliche betrifft und wieviel sie gewinnen können, wenn sie junge Menschen ernstnehmen.
Zum Autor
Ingo Dachwitz ist Journalist bei netzpolitik.org, politischer Bildner und war bis 2014 Mitglied im Vorstand der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend. Dieser Artikel ist eine aktualisierte und ergänzte Fassung eines Textes aus dem Jahr 2017. Der Autor ist erschreckt, wie aktuell er geblieben ist.
jugendgerecht.de, 20.06.2024