Das Bundesjugendkuratorium (BJK) hat sich 2009 mit konkreten Empfehlungen für eine jugendpolitische Neuausrichtung ausgesprochen. Vor welchem Hintergrund erschien die Entwicklung einer neuen Jugendpolitik notwendig?
Die Berufung der Mitglieder des BJK im Jahr 2006 erfolgte vor dem Hintergrund einer aufkommenden Debatte über den Stellenwert von Jugendpolitik. Damals standen in der öffentlichen Debatte die Themen Bildung und Frühe Förderung – auch als Reaktion auf die PISA-Studie – im Vordergrund. Jugendpolitische Themen wurden vernachlässigt oder waren primär mit einem Bild von Jugend als sozialem Problem verknüpft. Ein weiterer Aspekt war die demografische Entwicklung und der damit verbundene geringere Anteil von Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung. Auf europäischer Ebenen wurden Überlegungen zur Rolle von Jugend in einer wissensbasierten und globalisierten Gesellschaft und Ökonomie vorangetrieben. In der Fachöffentlichkeit bestand Übereinstimmung darin, dass es zwingend erforderlich ist, die jugendpolitische Debatte neu zu beleben. Zudem wurde in einer ersten Analyse die vorherrschende Jugendpolitik als ein Flickenteppich zusammenhangsloser Aktionen eingeschätzt, die keinem bestimmten Konzept folgten. Zusätzlich wurde aus dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend der Wunsch an das BJK herangetragen, das Konzept einer „Jugendpolitik aus einem Guss“ zu erarbeiten.
Wie würden Sie die zentralen Elemente dieser neuen Jugendpolitik beschreiben?
Das BJK hat in seiner Stellungnahme „Zur Neupositionierung von Jugendpolitik“ für eine ressortübergreifende, kohärente Jugendpolitik plädiert, die mehr ist als Kinder- und Jugendpolitik. Jugendpolitik wurde als politisches Handeln verstanden, das sich auf die Lebenslage Jugend, auf die Prozesse des Erwachsenwerdens unter den Bedingungen einer ausdifferenzierten, pluralen und wissensbasierten Gesellschaft in globalen Kontexten bezieht. Jugendpolitik wurde als zukunftsorientierte Gesellschaftspolitik reformuliert, die eigenständig und souverän ihrer eigenen Logik folgt und in der gesellschaftlichen Relevanz von Kindheit und Jugend, den daraus resultierenden Erfordernissen sowie den Interessen und Vorstellungen von Kindern und Jugendlichen begründet ist. Eine solche Jugendpolitik bezieht sich in zeitlicher Perspektive auf Gegenwart und Zukunft von Jugendlichen, greift sachlich die Differenziertheit der Interessen, Bedürfnisse und Anliegen von Jugendlichen auf und bezieht operativ die verschiedenen Ebenen und Akteure eines föderativen Systems ein. Die wesentlichen Stichworte für diesen Ansatz sind Schutz und Unterstützung, Befähigung und Bildung, Teilhabe und Partizipation sowie Generationenpolitik. Vorgeschlagen wurden u.a. ein regelmäßiges Jugendmonitoring, Kriterien und Indikatoren für die Bewertung politischer Vorhaben und Programme in Hinblick auf Jugendgerechtigkeit, Planungs- und Verantwortungsgemeinschaften zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Bildung auf kommunaler Ebene sowie die Stärkung der ressortübergreifenden Zuständigkeit des BMFSFJ als Fachministerium und der interministeriellen Zusammenarbeit.
Wie waren die Reaktionen auf die Veröffentlichung der BJK-Stellungnahme „Zur Neupositionierung von Jugendpolitik: Notwendigkeit und Stolpersteine“?
Die Resonanz auf die Stellungnahme war durchweg positiv. Die Autor*innen des Konzepts wurden von Verbänden und Initiativen auf Bundesebene eingeladen, ihre Überlegungen vorzustellen und zu diskutieren. Die konzeptionellen Überlegungen wurden insgesamt gewürdigt, kritisiert wurde, dass die operative Ebene nur bedingt ausgearbeitet worden war, was seine Ursache auch in unterschiedlichen Vorstellungen der im Kuratorium repräsentierten Interessen hatte. Ebenfalls wurde bei Veranstaltungen auf Landes- und auf kommunaler Ebene das Konzept präsentiert und diskutiert. Ich denke, dass die Stellungnahme einige Impulse zur Entwicklung einer Eigenständigen Jugendpolitik auf der Ebene verschiedener Länder gegeben hat. Auf Bundesebene sind die Anregungen im Prozess zur Entwicklung einer Eigenständigen Jugendpolitik aufgenommen und weitergeführt worden.
Was hat sich in den letzten zehn Jahren Ihrer Meinung nach verändert?
Die jugendpolitische Debatte ist wieder vitaler geworden. Der Prozess zur Entwicklung einer Eigenständigen Jugendpolitik und die Strategie unter dem Motto „Handeln für eine jugendgerechte Gesellschaft“ haben die politische Aufmerksamkeit für die Anliegen und Perspektiven Jugendlicher geschärft. In den erwähnten Prozessen sind unzählige Ideen für Kinder- und Jugendpolitik auf unterschiedlichen Ebenen zusammengetragen und Erkenntnisse aus Modellprojekten gewonnen worden. Die Kommission zum 15. Kinder- und Jugendbericht hat mit der weiteren Ausarbeitung eines differenzierten Jugendbegriffs die Grundlagen für eine ressortübergreifende und kohärente Jugendpolitik erweitert. Die Bundesregierung hat zum ersten Mal eine Jugendstrategie vorgelegt und in den Kontext der gegenwärtigen europäischen Jugendstrategie eingeordnet. Jugendpolitisch ist in diesem Zeitraum sehr viel geschehen. Arbeitsstellen wurden eingerichtet, Beratungsgremien gebildet, Expertisen erarbeitet. Die Partizipation von Jugendlichen an der Entwicklung von Jugendpolitik ist ausgebaut und verstetigt worden, wenn auch gefragt werden muss, wer genau und wie beteiligt ist. Unklar bleibt jedoch die Reichweite dieser Prozesse in Hinblick auf die Gestaltung und Verbesserung der Bedingungen des Erwachsenwerdens. Ebenso gilt es zu fragen, ob die notwendigen Ressourcen für die Umsetzung der Jugendstrategie, die Überwindung von strukturellen Ungleichheiten und die Verbesserung der Chancen von Kindern und Jugendlichen durch die verschiedenen Ebenen bereit gestellt werden.
Zur Person
Klaus Waldmann, Dipl. Pädagoge, Mitglied des BJK von 2006 bis 2009, früher Bundestutor der Evangelischen Trägergruppe für gesellschaftspolitische Jugendbildung, aktuell Coach und Prozessbegleiter für neue Träger der politischen Jugendbildung.
Klaus Waldmann war von 2006 bis 2009 Mitglied im Bundesjugendkuratorium, einem Sachverständigengremium, dem bis zu 15 Fachleute aus Politik, Verwaltung, Verbänden und Wissenschaft angehören. Das BJK berät die Bundesregierung in grundsätzlichen Fragen der Kinder- und Jugendhilfe und in Querschnittsfragen der Kinder- und Jugendpolitik. 2009 veröffentlichte das BJK die Stellungnahme "Zur Neupositionierung von Jugendpolitik".